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Eine Kurz­geschichte inspiriert von der Fahrt nach Buchen­wald...

... geschrieben von Ida Hackenbroch (EF), Malve Parduhn (EF) und Jannis Gehrmann (EF)

04.04.2022

Winkel

 

Der Schnee, welcher seit Tagen fällt, lässt mehr und mehr Häftlinge erfrieren. Aufgrund des langen Stehens auf dem Appellplatz beginnt die Kälte durch die löchrige Kleidung unter die Haut zu kriechen. Laut der Uhr auf dem Torgebäude stehen wir hier seit 27 Minuten. Davor wurden wir durch die Gewalt der Wärter durch das Tor geprügelt.


Überall sind Menschen.


Es ist laut.


Schlagstöcke prallen auf die Knochen einiger Männer. Ich glaube Hunde gehört zu haben, bin mir aber aufgrund des Lärms, der vielen Schreie der Menschen und der Schüsse überall nicht sicher.
Ich blicke durch die Männer hindurch zum Tor. Dort wird gerade eine Leiche weggetragen, den Mann hatten wir überrannt. Er war auf dem Weg durchs Tor gefallen und wir konnten ihm nicht helfen. Ein anderer Mann versperrt mir die Sicht. Ich sehe das Tor wieder und der Körper ist weg, übrig ist nur noch eine rote Blutspur im frisch gefallenen und unberührten Schnee.

 

„Still gestanden!“, ruft ein Mann in einer SS-Uniform.

 

Ich stelle mich gerade hin und blicke starr auf den Hinterkopf meines Vordermannes.


Es gruselt mich, wie ich ganz automatisch dem Befehl folge. Ich halte meinen Atem an und höre, wie der Mann in der SS-Uniform Namen aufruft.

 

„Peter Klausel, Anton Phillips, Markus Carl…“

 

Es werden etliche Namen ausgerufen, darunter auch meiner.

 

Wir werden neu gruppiert. Abgesehen von meiner Gruppe gibt es noch zahlreiche andere. Neu aufgestellt stehe ich neben einem Mann. Er ist ungefähr so groß ist wie ich, doch einige Jahre jünger. Er ist verängstigt und schaut unsicher nach vorne.

 

„Was passiert jetzt? Warum wurden die Gruppen vermischt?“, flüstert er mir zu ohne mich dabei anzublicken.

 

„Wir bekommen jetzt unsere Kleidung und unsere Kennzeichen werden uns zugeteilt.“, antworte ich ihm leise.

 

„Warum? Und von welchen Kennzeichen sprichst du?“, fragt er nervös.

 

„Siehst du das rote Dreieck auf der Uniform des Soldaten?“

 

„Ja! Was bedeutet es?“

 

„Es zeigt, dass er ein SS-Soldat ist. Wir hingegen bekommen Dreiecke, in unterschiedlichen Farben, mit unterschiedlichen Bedeutungen. Sie sollen offenbaren, was du verbrochen hast.“,
erkläre ich es ihm.
„Je nach Anzahl deiner Missetaten, trägst du dementsprechend viele Kennzeichen an deinem Körper. Rot heißt politisch falsch denkend. Blau bedeutet Emigrant. Violett zeigt dich als Bibel-Forscher. Rosa enttarnt dich als homosexuell. Trägst du Grün, bist du ein Berufsverbrecher, trägst du Schwarz, bist du asozial und arbeitsscheu. Zeigst du dich rückfällig als Häftling der Strafkompanie, bekommst du ein weiteres Zeichen. Und als Jude bekommst du sowieso eines.“, füge ich hinzu.

 

Erneut brüllt der Soldat.

 

Irgendetwas stimmt nicht.

 

Eine Unruhe entsteht.

 

SS-Soldaten laufen durch die Reihen. Schüsse fallen. Einer direkt neben mir, es trifft den Mann, mit dem ich gerade noch sprach. Er sackt zusammen und bleibt leblos auf dem Boden liegen.
Instinktiv will ich meine Ohren zuhalten, stoppe mich aber bei dem Gedanken daran, dass es mich umbringen könnte. Ich bleibe stehen, atme, schaue nach oben zu den herunterfallenden Schneeflocken.
Es ist, als fingen sie die Geräusche auf.
Ich höre nichts.
Ich höre nicht, wie die SS-Soldaten schreien.
Ich höre nicht, wie die SS-Soldaten schlagen.
Ich höre nicht, wie die SS-Soldaten schießen.
Ich höre weder das Kläffen der Hunde noch das Geschrei der Menschen.
Es ist erschreckend, wie wir schikaniert und getötet werden für das, was wir sind, woran wir glauben, wen wir lieben, was wir tun oder was wir nicht tun, wie wir leben, dass wir leben.

 

Ich blicke ein letztes Mal über den Appellplatz, mein Blick kreuzt sich mit dem eines SS-Soldaten. Er starrt mich an und kommt mit schnellem Schritt auf mich zu.
Ich spüre den Schnee sanft und kühl auf meiner Haut, bevor sich mein warmes Blut mit dem der anderen auf dem weißen Schnee vermischt.